Von unbewussten Vorurteilen - Medizin, Gesellschaft & Psychologie - Gastbeitrag von Petra Schleifer

Sandra Wurster | 28 May, 2020


          
            Von unbewussten Vorurteilen - Medizin, Gesellschaft & Psychologie - Gastbeitrag von Petra Schleifer

Gastbeitrag von Petra Schleifer (Instagram: @bellyandmind)

“Also, Fakt ist, es gibt ein ungesundes Gewicht!” Das ist ein Satz, den höre ich ständig. Was mir dazu einfällt: Fakt ist: Das ist Bullshit! Warum das aus meiner „Anti-Diät“ Sicht so ist, möchte ich Dir an aus drei unterschiedlichen Perspektiven nahebringen: medizinisch, gesellschaftlich und psychologisch.

1. Medizinisch:

haben Menschen aufgrund ihrer Gene unterschiedliche Merkmale, wie den Körperbau, die Augenform- und farbe, Hautfarbe, Nasenlänge- und breite, Bein- oder Halslänge, um nur ein paar zu nennen. Bei keinem der Merkmale würde man auf die Idee kommen, sie in ungesund und gesund einzuteilen. Oder gar einen Bewertungsquotienten zu entwickeln, der beispielsweise das Verhältnis der Nasenlänge zu Nasenrückenbreite bestimmt.

Beim Gewicht hat man das mit der Einführung des Body-Mass-Index (BMI) leider getan. Der BMI ist im 19. Jahrhundert von einem Statistiker entwickelt worden, um das kollektive Gewicht der Bevölkerung zu erfassen. Der BMI war nie dafür gedacht, die Gesundheit einer Person zu messen und ist dazu auch völlig ungeeignet.

Schon immer gibt es in der Medizin verschiedene Körperbautypen – ob im Ayurveda, in der Traditionellen Chinesischen Medizin oder bei den alten Römern. Die Körperform wird hauptsächlich von Fettpolstern und Muskulatur bestimmt, sagt aber absolut nichts darüber aus, wie gesund ein Mensch ist. Merkmale, die den Gesundheitszustand eines Menschen beleuchten, sind etwa die Werte von Cholesterin und Blutdruck, Erholungszeiten nach Operationen, Anfälligkeiten für Infektionserkrankungen, chronische Krankheiten wie Rheuma oder Diabetes und der allgemeine Zustand des Immunsystems.

Unser Körper verändert sich ständig. Als Baby können wir rund und mollig sein, als Jugendlicher dann schlaksig oder kräftig. In den jungen Erwachsenenjahren sehen die meisten anders aus als in der Menopause. Unser Körper ist nicht dafür da, um einem Ideal zu entsprechen, sondern um uns ein gesundes und schönes Leben zu ermöglichen. Ihm sind künstlich erzeugte Schönheitsideale der Medien und Werbetreibenden egal. Er will überleben, Freude empfinden und Schmerz vermeiden. Dafür braucht er ausreichend Nahrung (Energie), Nährstoffe und Bewegung, Sicherheit und Ruhe.

Fazit: Körperbau und Gewicht sind keine Messgrößen, die eine wertende Einteilung in „normal-, unter- oder übergewichtig” zulassen.

Hinzu kommt, dass wir egal, wie unglücklich wir mit unserem genetisch vererbten Körpertyp sind, ihn nicht verändern können. Es gibt keine Methode, die sicher, gesund und nachhaltig dafür sorgt, dass wir abgenommenes Gewicht unten halten. Nach 1-5 Jahren sind mind. 90 % aller Diäten gescheitert und 70 % der Diäthaltenden sind nachher dicker als vorher. Somit gibt es kaum etwas, das uns nachhaltig so dick macht wie alle möglichen Maßnahmen, um Gewicht zu verlieren. Woran liegt das, wenn wir doch alle schon mal Gewicht verloren haben? Dafür gibt es mehrere Gründe:

  • Das Gewicht wird im Gehirn geregelt und nicht wie oft erwartet im Stoffwechsel. Wir haben ein genetisches Sollgewicht, das bedeutet, ein Gewicht, bei dem sich unser Körper der best möglichen Gesundheit erfreut. Dieses wird durch unterschiedliche Systeme (Hormone, Psyche, Stoffwechsel, Bewegungsdrang etc.) im Körper vom Gehirn reguliert. Dieser Wert hat in der Regel eine Spanne von bis zu 5 kg. Je stärker wir versuchen, unter dieses „körpereigene Ideal-Gewicht“ zu kommen, umso eher wird der Sollwert nach oben korrigiert, um uns vor dem Verhungern zu schützen.
  • Betrachten wir Diäten aus körperlicher Sicht, sind sie wie Hungersnöte und sorgen dafür, dass all das, was wir „nicht“ essen durften (aufgrund der Diätmentalität) ausgeglichen und nachgeholt wird. Wir sind demzufolge nicht immer dicker geworden, weil wir undiszipliniert sind, sondern das genaue Gegenteil, weil wir uns mit aller Macht das Essen verwehrt haben, bis das Gehirn sich das Gewicht zurückerobert hat.
  • Wie machen Gehirn und Körper das? Das Gehirn nutzt die Macht der Hormone und lässt Nahrung leckerer erscheinen, sie intensiver riechen und schmecken. Wir werden langsamer satt und haben mehr Hunger. Der Bewegungsdrang wird herabgesetzt und Chillen attraktiver als sich zu bewegen.
  • Erschwerend hinzu kommt, dass wir Essen häufig als negativ bewerten und Sport als Bestrafung für „zu viel essen“ benutzen.
  • Je gnadenloser wir versuchen unser Gewicht loszuwerden, umso härter wird das Feedback vom Körper sein. Und wenn es um das Überleben geht – gewinnt der Körper immer – es sei denn, wir werden essgestört.
  • Diäten sind der Einstieg für die meisten Essstörungen wie Binge-Eating (Essanfälle), Bulimie (Essanfälle und Erbrechen), Magersucht oder Orthorexie (Sucht nach „gesundem Essen“ als zwanghafte Störung).

2. Gesellschaftlich:

findet gerade ein großer Wandel statt. Waren wir Jahrzehnte lang überzeugt, dass Gewicht ein großer Faktor für die Beurteilung von Gesundheit ist, haben wir in den letzten Jahren aufgrund von Konzepten wie „Health At Every Size“ von Linda (heute Lindo) Bacon oder „Intuitive Eating“ von Evelyn Tribole und Elyse Resch lernen dürfen, dass Diäten mit ständigen Gewichtsschwankungen deutlich ungesünder sind als ein stabiles, wenn auch hohes Gewicht. Die Studienlage zeigt klar und deutlich: Es gibt KEINE sichere Methode, um dauerhaft Gewicht loszuwerden.

Trotzdem bleibt die Diskussion à la „Aber wenn eine Person 300 kg wiegt, kann das nicht gesund sein.” Und natürlich ist es nicht gesund, sich nicht mehr bewegen zu können. Aber der betroffene Mensch ist nicht da, wo er gerade ist, weil er blöd, undiszipliniert oder faul ist. Es gibt Krankheiten, die Gewichtszunahmen begünstigen, etwa eine Depression ist, ein erlebtes Trauma oder eine Stoffwechselstörung. Welche Ursache es ist, ist für uns jedoch vollkommen irrelevant, denn

  1. es geht uns nichts an und
  2. steht uns nicht zu, das zu beurteilen.

Es gibt im Englischen einen Begriff dafür: „Healthism“. Wie oft müssen sich Menschen in größeren Körpern beim Arzt anhören: „Wenn Sie möchten, dass Ihre Knie besser werden, dann müssen Sie abnehmen.” Bei schlanken Menschen wird davon ausgegangen, dass sie sich viel bewegen, gesund leben und nichts dafür können, dass die Knie kaputt sind. Statistisch gesehen sind die Knie beider Gruppen gleich kaputt oder gesund. So wie wir eine Diskriminierung aufgrund von Geschlechtern oder Hautfarben haben, so haben wir auch eine aufgrund des Gewichts oder aufgrund des Gesundheitszustandes. Menschen in größeren Körpern verdienen weniger Geld, bekommen seltener den Job und werden permanent mit „gut gemeinten“, grenzüberschreitenden Tipps zum Abnehmen konfrontiert.

Wenn also eine Body Positivity Aktivistin sagt „jeder Körper ist ein guter Körper“, dann auch, weil es um alle Körper geht. Die Großen, die mit Erkrankungen oder die mit Handicap. Healthism ist nicht nur ungerecht, sondern auch gefährlich für uns alle, denn Gesundheit ist nicht zu 100% steuer- und kontrollierbar. Es kann jeden treffen und wir alle möchten uns nicht auch noch schuldig fühlen, wenn es uns erwischt.

Ebenso wie das Gewicht ist Gesundheit sehr stark abhängig von den Genen aber auch von unserem Umfeld. Aus welcher sozialen Schicht komme ich? Kenne ich Armut, Angst, Missbrauch, Gewalt? Muss oder musste ich andere besondere Herausforderungen meistern wie kranke Kinder oder Eltern? Wenn jemand meint „Ich bin schlank und gesund, weil ich so sportlich bin und so gut esse“, dann möchte ich an dieser Stelle sagen: Gesundheit ist ein Privileg. Es ist nicht nur durch Anstrengung erworben und kann sich schnell ändern. Wer in sicheren Familienverhältnissen aufgewachsen, weiß, mit entsprechenden Genen ausgestattet und gesund ist, sollte sich seiner Privilegien bewusst sein. Dankbarkeit und Demut ist hier angebrachter als Überheblichkeit.

3. Psychologisch:

Gewichtsstigmatisierung bereitet uns extremen Stress, egal ob wir fett sind, uns fett fühlen oder nur Angst haben, es zu werden. Stress hat viele Folgen auf unsere Gesundheit: Er lässt das Bauchfett wachsen, steigert den Hunger, führt zu erhöhten Stresshormonen, erhöht die Zuckerfreisetzung im Körper und damit den Blutzuckerspiegel. Der Blutdruck steigt und das Blut gerinnt schneller. Letzteres ist hilfreich, wenn der Säbelzahntiger hinter uns her ist, aber nicht so toll, wenn es nur der Freund mit seinen Kommentaren zu unserem Gewicht ist.

Dauerstress kann viele Erkrankungen verursachen, wie z.B. Diabetes (der kommt nicht, wie viele denken, von zu viel Zucker). Der permanente Anstieg der Stresshormone Cortisol und Adrenalin kann nachweislich die Lebensdauer verkürzen. Und der Stress kommt nicht durch das Essen, sondern durch die Stigmatisierung, die Angst, die Sorge vor der Meinung anderer. Wir leben in einer sehr gewichtsstigmatisierenden Welt. Frauen sind noch heftiger betroffen als Männer. Studien zeigen aber, dass junge Männer deutlich aufholen und sich immer mehr Körperschema-Störungen zeigen.

Fazit:

Gesundheitlich: Ob ein Mensch gesund oder ungesund ist, kann von Außen nicht beurteilt werden, egal bei welcher Größe.

Gesellschaftlich: Wenn ein Mensch krank ist, hat er Mitgefühl verdient und keine Ausgrenzung. Wer lernt, Mitgefühl mit andern zu entwickeln, lernt auch Mitgefühl für sich selbst und lebt nicht nur gesünder, sondern auch glücklicher.

Psychologisch: Die Stigmatisierung von Gewicht ist ein großer Faktor für die Entstehung von psychischen Erkrankungen, wie Essstörungen, Depressionen, (Diät-) Burn-Out, vermindertem Selbstwert und Suiziden.

Bitte bewerte Menschen, Körper und ihre Gesundheit nicht nach ihrem Aussehen!

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