Warum ist es so schwierig, intuitives Essen zu lernen? - Gastbeitrag von Petra Schleifer

Sandra Wurster | 16 July, 2020


          
            Warum ist es so schwierig, intuitives Essen zu lernen? - Gastbeitrag von Petra Schleifer



Gastbeitrag von Petra Schleifer (Instagram: @bellyandmind)

Häufig bekomme ich verzweifelte Mails oder Fragen auf Instagram von Frauen, die sich im intuitiven Essen versuchen. Sie haben dann meist den Klassiker von Resch/Tribole gelesen und folgen einigen Accounts, die versprechen, dass man mit intuitivem Essen die Freiheit, den Frieden und am besten noch den Wohlfühlkörper bekommt, den man sich wünscht. Klingt erst mal super, ist es auch, ABER….

Wenn du schon einmal eine Diät gemacht hast, kennst du den Prozess:

  1. Du bist super unzufrieden mit dir und deinem Körper und beschuldigst dich, selbst schuld an deiner Misere zu sein.
  2. Dann nimmst du dir vor, es nun allen zu zeigen, dich endlich mit aller Kraft, allen Hilfsmitteln, allen Tricks und Kniffen in die Startposition zu bringen und loszulaufen.
  3. Du machst dir eine Einkaufsliste, einen Menüplan, sagst alle Verabredungen zum Essen vorsichtshalber ab, lässt die zu engen Kleidungsstücke im Schrank und bildest dir ein, sie könnten als Motivation dienen.
  4. Dann geht es los: Du lebst nach einem Plan, hungerst, quälst dich und redest dir gut zu, dass diesmal alles besser wird. Und das Essen doch eigentlich köstlich ist.
  5. Den Rest kennst du: Du nimmst ab, freust dich, wirst vielleicht sogar gefeiert und nach und nach schleichen sich die abgenommenen Kilos wieder auf den Körper zurück.
  6. Irgendwann hast du wieder dein Ausgangsgewicht oder noch mehr Gewicht als vorher und bist verzweifelt.

Wenn du dann die Nase so richtig voll von Diäten und dem Hoch und Runter hast, entschließt du dich vielleicht, intuitives Essen mal auszuprobieren. Die Instagramer*innen, denen du folgst, sind meist sportlich, jung und scheinen deinen Weg zu kennen. Sie kommen aus der Essstörung, haben mit dem intuitiven Essen abgenommen und wollen dir nun dabei helfen, dass auch du frei von Schuld, Scham und emotionalem Essen wirst. Super Idee – aber eben oft auch ein steiniger Weg.

Warum ist das so?

  1. Wer mit intuitivem Essen beginnt, darf sich erst einmal von dem Wunsch frei machen, abzunehmen. Wenn du aber die schlanken Coaches siehst, die so sportlich durch ihr Leben joggen, fällt es dir schwer. Nicht, weil diese etwas Falsches vermitteln, sondern weil die Bilder dir unbewusst suggerieren, dass auch du zwangsläufig sportlich und schlank wirst. Intuitives Essen ist aber nicht nur für schlanke Menschen, sondern für alle. Es ist gewichtsneutral und verspricht (zumindest im Original) auch keine Abnahme. Beim intuitiven Essen gibt es kein richtig und falsch. Es gibt keinen Cheatday und keinen Plan – es gibt nur dich und deine Bedürfnisse. Du machst deinen eigenen Erfahrungen und dein intuitives Essen wird am Ende anders aussehen als meins.
  2. Hör auf, dich zu vergleichen. Ich bin 51 Jahre alt und viele der Insta-Coaches sind gerade mal halb so alt. Viele von ihnen haben einen athletischen Körpertyp (ich freu mich für sie), ich aber nicht. Wenn zwei Menschen die exakt gleiche Körpergröße haben, das gleiche Alter und sie die gleiche Kalorienmenge zu sich nehmen, kommen trotzdem zwei komplett unterschiedliche Figuren dabei heraus. Wir Menschen lassen uns nicht berechnen und das ist auch gut so.
  3. Bei dem Gedanken „Jetzt zeige ich es allen!” geht es um die Verletzungen, die du erfahren hast, und die unterdrückte Wut, gemobbt und diskriminiert worden zu sein (wenn auch “nur” durch blöde Blicke oder beiläufige Fragen wie „Ach, hast du zugenommen?“). Es ist gut, die Wut zu fühlen und zuzulassen, aber du solltest sie nicht nutzen, um dich selbst zu zügeln oder zu hungern, sondern sie dort hinrichten, wo sie hingehört: gegen eine Kultur, die dir immer wieder sagt, dass du nicht richtig bist. Nutze die Wut, um zu sagen : „LMAA, ich lass mich nicht mehr für dumm verkaufen und mache keine Diäten, Ernährungsumstellungen, Detoxes usw. mehr. Ich mach mir nicht mehr vor, dass es gesund sei, die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken.” Dein Schmerz wurde nicht durch deinen Körper verursacht , sondern durch die Menschen, die sich herausnahmen, ungefragt deinen Körper zu beurteilen und schlaue Tipps zu geben. Nutze die Wut, um dich abzugrenzen und andere in ihre Schranken zu weisen.
  4. Bei einer Diät räumst du die Lebensmittel aus den Schränken, von denen du denkst, dass sie dich verführen könnten. Da du dir selbst nicht über den Weg traust, verbannst du sie und versuchst sie zu umgehen. Im intuitiven Essen machst du das Gegenteil: Du kaufst alle „verbotenen“ Lebensmittel oder zumindest einige (so viele wie du aushältst), und zwar in so großen Mengen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass du nicht alles davon essen kannst. Bei mir hieß das zehn Packungen Toffifee. Nachdem ich sie in der Vorratskammer liegen hatte, ging mit der Po wirklich auf Grundeis. Toll war dann aber die Erfahrung, dass es ein Stop gibt, wenn ich anfange, zu essen. Irgendwann will man nicht mehr – man ist nicht nur satt, sondern hat eine Abneigung, weiter zu essen. Das kann schon ein Stück Heilung sein, macht aber eben auch Angst.
  5. Eine der größten Ängste ist, zuzunehmen statt abzunehmen. Was eine realistische Angst ist. Ich habe definitiv nach vielen Jahren Low-Carb-Ernährung mit intuitiver Ernährung erst einmal zugenommen, weil ich alles nachholen und ausprobieren musste, was ich mir jahrelang verwehrt hatte. Im Restaurant zu sitzen und das erste Mal nicht das Gefühl zu haben, ich muss den Salat bestellen, wenn ich den Burger essen möchte, war so unglaublich toll. Trotzdem waren da zu Beginn definitiv Zweifel und schlechtes Gewissen.
  6. In einer Diät geht es mit den schwindenden Kilos immer weiter dem Ziel entgegen. Doch der Prozess des intuitiven Essen ist alles andere als eine Diät, denn er hört nicht auf. Intuitives Essen fordert dich immer wieder heraus, nach Innen zu schauen und Glaubenssätze zu entdecken, die du immer noch bedienst, obwohl sie dir schon lange nicht mehr dienen. Du bemerkst, wie viel Angst du davor hast, nicht mehr gemocht zu werden, wie viel Angst es dir macht, dich abzugrenzen und Menschen in ihre Schranken zu weisen. Intuitives Essen ist eine Art Persönlichkeitsentwicklung. Wer den Weg geht, kommt sich selbst näher, aber eben auch den alten Verletzungen, der Scham, den eigenen Vorurteilen, den Essenzen seines Familiensystems und dem Denken unserer Gesellschaft.
  7. Beim intuitiven Essen gibst du die Kontrolle von Diätplänen auf und hörst auf deine Körpersignale, doch das ist gar nicht immer so einfach. Du möchtest essen, was dein Körper möchte, aber zu Beginn weißt du oft nicht einmal, was das ist. Du fühlst dich verloren und musst alles neu lernen. Es ist als hättest du den Sinn verloren und müsstest nun einem anderen vertrauen lernen. Vielleicht merkst du erst nach der Pizza, dass das gespürte Bedürfnis immer noch da ist und die Pizza nichts verändert hat. Ein anderes Mal merkst du vielleicht, dass du Hunger mit Müdigkeit verwechselt hast. Vielleicht erlebst du aber auch den ultimativen Genuss und bereust nichts.
  8. Das intuitive Essen stellt alles auf den Kopf, was du je über Essen gelernt hast. Da scheint es einfacher, eine Diät zu machen und brav in dem Zyklus aus Selbsthass, Diäten, Gewichtsabnahme und Gewichtszunahme zu bleiben, statt dich wirklich zu verändern. In der Therapie sagen wir „leiden ist leichter als lösen“. Doch du wirst belohnt werden. Beim intuitiven Essen honorierst du den Hunger, statt ihn zu unterdrücken. Du respektierst deinen Körper und die Sättigung, statt deinen Körper durch negative Gedanken zu beschämen. Du feierst die Funktionen deines Körpers, statt vor dem Spiegel an der Cellulitis hängen zu bleiben. Du lernst, dich und deinen Körper, komme was wolle, anzunehmen und ihn wie ein Kind zu lieben, auch wenn er mal nicht macht, was du dir vorgestellt hast.

Ich glaube, die meisten von uns merken langsam, dass sie nicht das Leben führen, dass sie führen möchten. Ob es nun um das Thema Gleichberechtigung geht oder das Thema Körperscham und die dazu gehörige Angst. Ich denke, wir wollen nicht wählen zwischen Missy und Milf, sondern dem System mit seiner frauenverachtenden Haltung in den Allerwertesten treten. Ich denke, wir wollen endlich wir selbst sein dürfen und uns von unseren Masken befreien. Wir wollen bedingungslos geliebt werden und bedingungslos lieben – und nicht permanent irgendwelche Bewertungsskalen beachten müssen.

Du siehst also, intuitives Essen geht tief und verändert nicht nur dein Leben, sondern auch die Welt ein kleines bisschen mit. Wenn du aufhörst, dich kontrollieren und zügeln zu lassen, wenn du aufhörst, dich und deinen Körper zu hassen, und stattdessen lernst, dich bedingungslos zu lieben, verändert das nicht nur dein Essverhalten, sondern dich als Mensch und die Welt gleich mit. Das ist groß und folgt keinem Plan – außer einem Göttlichen.

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