Gastbeitrag von Brit Morbitzer (Instagram: @brit_morbitzer)
Hinweis: Achtung, der folgende Text kann Trigger bzgl. Essstörungen enthalten
Was bedeutet Minimalismus und was Genuss
Zwei Begriffe, die sich auf den ersten Blick so gar nicht vereinbaren lassen. Deshalbmöchte ich sie zuerst definieren, damit wir alle das gleiche Verständnis haben.Im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache steht unter “Minimalismus” folgendes: “Abkehr von der Konsumorientierung, freiwillige Einfachheit, einfaches Leben”. Unter “Genuss” steht: “die Aufnahme von Essen und Trinken, das was jemandem Freude, Annehmlichkeit bereitet, die Befriedigung”.
Meine eigenen Definitionen
Das hört sich für mich alles sehr trocken und wenig emotional an, deshalb habe ich die Begriffe für mich einfach etwas ausgeweitet. Minimalismus bedeutet für mich, mir darüber bewusst zu sein, was ich alles besitze und mir auch über dessen Zweck, Wert und Bedeutung gewahr zu sein. Und Genuss bedeutet für mich, im Hier und Jetzt zu sein, mich einer Erfahrung voll und ganz hinzugeben.
Genuss beschränkt sich für mich nicht nur auf Lebensmittel. Ich genieße mit allen Sinnen: die Sonnenstrahlen oder den weichen fließenden Stoff meines neuen Kleides auf meiner Haut, den Geruch von frisch gewaschener Wäsche und frisch gemähtem Gras oder die Luft kurz bevor es anfängt, zu regnen. Meine Augen erfreuen sich an den kräftigen Farben eines Mohnblumenfeldes oder dem Schattenspiel meiner Pflanzen, wenn die Nachmittagssonne durchs Fenster scheint. Ich schließe die Augen, um den Klang des Regens besser zu hören, und es durchfährt mich ein wohliger Schauer, wenn ich klassischer Musik lausche.
Genuss beim Einkaufen
Fühlen, Schmecken, Riechen, Hören – alle Sinneswahrnehmungen nehme ich natürlich auch mit zu meinem Lieblingsthema: dem Zubereiten von Speisen (und dem anschließenden Verzehr)! Für mich beginnt das schon beim Einkaufen. Ich schlendere über den Wochenmarkt, sehe das farbenfrohe Obst und Gemüse, Kräuter und Blumen. Ich lasse mir alles in meine mitgebrachten Baumwolltaschen einpacken. Um mich herum höre ich murmelnde Stimmen, Menschen lassen sich von der Vielfalt inspirieren, überlegen, welche leckeren Sachen sie mit den frischen Köstlichkeiten zubereiten können, und tauschen Rezeptideen mit der Marktverkäuferin aus.
Genuss und Minimalismus beim Kochen
Zuhause packe ich meine Einkäufe aus, fühle die samtige Haut des reifen Pfirsichs, rieche die Anisnoten des Fenchels, nehme das Rascheln des Kräuterbundes wahr. Das frische Knacken beim Biss in den süß-säuerlichen Apfel, das Zischen des Olivenöls, wenn ich den gewürfelten Kohlrabi in die heiße Pfanne gebe, der Knoblauchduft, der durch die Küche zieht.
Mein Holzschneidbrett weist viele Messerspuren auf, es ist leicht speckig vom regelmäßigen Einölen. Mein kleines Küchenmesser schmiegt sich in meine Hand, das Holz fühlt sich großartig an und nimmt direkt meine Körpertemperatur an. Der Griff der Pfanne liegt schwer in meiner Hand, sodass ich die Kohlrabiwürfel sicher darin schwenken kann. Der Kochlöffel liegt neben dem Herd bereit und meine Gewürze sind über dem Herd aufgereiht mit einem Griff erreichbar. Meine restlichen Zutaten befinden sich direkt über dem Schneidbrett, alle in Glasbehältern und beschriftet.
Meine Teller, Schüsseln und Tassen befinden sich alle hinter derselben Schranktür. Meine kleine aber feine Auswahl lässt mir Platz, um wichtige Entscheidungen an anderer Stelle zu treffen – und nicht bei der täglichen Auswahl für meine Mahlzeiten.
Energieraubender Alltag
Ähnliches Szenario: Supermarkt, grelles Licht, der Hall schrecklicher Radiomusik durchzieht die gefliesten Gänge, Obst und Gemüse in Plastik eingepackt, an jeder Ecke ein Werbeaufsteller mit einem neuen vielversprechenden Pülverchen oder Fertiggericht. Zuhause dann ein Berg voller Plastikmüll, das Handy klingelt ständig, telefonierend wird in der Schublade nach irgendeinem stumpfen Messer gekramt, ein Stück Plastikgriff ist abgeplatzt. Das vergilbte Plastikschneidbrett wellt sich, weil es aus Versehen beim letzten Kochen die Herdplatte geknutscht und zu viel Hitze abbekommen hat. Das Handy klingelt erneut, das stumpfe Messer rutscht vom Kohlrabi ab, ein Pflaster muss her. Jetzt aber schnell – schon viel zu viel Zeit verloren! In der Gewürzschublade herrscht Chaos: Wo steckt nur die Muskatnuss? Ah hier, ein kleines Plastikpäckchen. Shhhhh… schon hat sich der Inhalt in der Schublade verteilt, weil das Tütchen nicht richtig verschlossen war. War das gerade etwa eine Motte? Komisch, weshalb garen denn die Kohlrabiwürfel nicht gleichmäßig? Einige sind schon verbrannt und andere noch roh. Die Pfanne muss unbedingt entsorgt werden, sie hat komische Dellen am Boden. Welches Geschirr soll heute bloß auf den Tisch: das von Tante Ria mit dem Goldrand, das Hochzeitsgeschirr meiner Eltern oder das roséfarbene vom schwedischen Riesen? Viel zu müde und gestresst vom Einkaufen und Kochen, um noch mehr Entscheidungen zu treffen.
Finde den Fehler
Geht es dir auch oft so, dass du dich über die vielen Möglichkeiten an leckeren Rezepten und Kochbüchern aus der ganzen Welt freust, es aber bei der Umsetzung hapert, weil du einfach nicht die optimalen Voraussetzungen in deiner Küche und auch nicht das organisatorische Grund-Know-How hast? Und fehlt es dir an Zeit und Energie, weil du dich selbst nicht mit ausreichend nährenden, frischen Mahlzeiten versorgst?
Wenn du in deiner Küche wirklich nur die Dinge hast, die du auch benutzt und brauchst, wird dein Leben schlagartig leichter, denn dir geht das Kochen wie im ersten Szenario easy peasy von der Hand! Du musst auch nicht fünf verschiedene Gemüsesorten auf einmal schnibbeln und anbraten oder 15 verschiedene Komponenten in deiner Bowl kombinieren. Abgesehen davon, dass die meisten Zutaten, die wir kaufen, nur ein bis zwei mal zum Einsatz kommen und dann willkommene Schrankhüter für Schädlinge sind, können zu viele Zutaten in einem Gericht auch für einen ordentlichen Blähbauch sorgen und deine Verdauung belasten.
Küchenminimalismus bedeutet, mit ausgewählten, qualitativ hochwertigen Lebensmitteln nährende und frische Mahlzeiten in einer organisierten Küche mit ergonomischen Arbeitsabläufen zuzubereiten.
Aber Stopp! Irgendetwas fehlt doch noch zum vollendeten Genuss …
Hingabe beim Essen selbst
Hierzu erzähle ich dir einen kurzen Schwank aus meinem Leben. Schon mit drei Jahren bescheinigte mir mein Kinderarzt Übergewicht. Meine erste Diät machte ich mit elf Jahren. Mit 23 Jahren war ich in der Adipositassprechstunde, um mir ein Magenband legen zu lassen (was ich glücklicherweise nicht tat). Mit 25 litt ich unter Depressionen, weil mir mein Hormonarzt falsche Medikamente verschrieb. Er behandelte mich NICHT aufgrund meiner Blutwerte, sondern allein wegen meines Gewichts. Auch zwei Verhaltenstherapien halfen mir nicht, meine damalige Essstörung und meine Selbstverachtung ins Positive zu wandeln. Mit 34 stieg ich aus dem Hamsterrad der Festanstellung aus und begann mich selbst zu finden. In meiner Selbstständigkeit als Café-Besitzerin. Ich beschäftigte mich jeden Tag mit den Dingen, die mir Gesellschaft, Familie und damalige Freunde als Gift für mehrgewichtige Menschen wie mich bescheinigten: nämlich mit Essen.
Ich eroberte mir Stück für Stück den Genuss zurück. Nicht nur den Genuss von Nahrungsmitteln, sondern von allem: Musik, Tanzen, Lachen, LEBEN! Die Selbstheilung meiner langjährigen Essstörung – heute als Binge-Eating, damals einfach nur als Faulheit bezeichnet – verdanke ich meinem ganzheitlichen Lebenswandel: Selbständigkeit, Umzug, neuer Freundeskreis und dem Nachgehen meiner Leidenschaft: dem Kochen!
Alles, was ich jahrelang unterdrückt hatte und mir durch gesellschaftliche Zwänge versagt war, eroberte ich mir zurück!
Die unangenehmen Blicke der anderen beim Einkaufen zu bemerken, die meinen Einkauf inspizierten. Heimlich daheim Süßigkeiten zu essen, weil es in der Öffentlichkeit als dicke Person anstößig ist. Weder Eis noch Pizza zu genießen. All das sind Gefühle, die Genuss für mich unmöglich machten. Nicht nur draußen, auch in meinen eigenen vier Wänden schämte ich mich zu essen.Selbst, wenn eine ‘gesunde’ Mahlzeit auf dem Tisch stand, hatte ich ein schlechtes Gewissen und es schwirrten tausend Gedanken in meinem Kopf rum, wie “Darf ich das essen? Hätte ich doch nur weniger Öl verwendet! Ach, die Scheibe Brot spare ich mir heute. Wenn meine Mutter wüsste, was ich da gerade wieder esse…”.
Welchen Einfluss unsere Gedanken auf unsere Verdauung haben
Wir dürfen nicht unterschätzen, welchen Einfluss unsere Gedanken auf unsere Verdauung und unseren Stoffwechsel haben. Ich nehme immer das anschauliche Beispiel von nervösem Durchfall. Dem geht meistens nicht der Genuss von einem Nahrungsmittel, das nicht vertragen wird, voraus. Allein die Kraft unserer Gedanken verursacht den Durchfall. Wenn wir also mit schlechtem Gewissen und unter Stress eine ausgewogene, frische Mahlzeit zu uns nehmen, wird dieses Essen uns nicht nähren. Wenn wir einen Schokoriegel mit voller Hingabe und positiven Gedanken genießen, wird dieser in diesem Moment sehr nahrhaft sein und uns gut tun. Meine Liebe Freundin Lena von@lenaturahat mich mit der ayurvedischen Weisheit vertraut gemacht: Du bist nicht was, sondern wie du isst. Und das trifft es total.
Wie hilft Minimalismus beim Genießen
Auch hier half mir mein minimalistischer Lebenswandel sehr, meine Einstellung zu mir und zum Essen zu wandeln. Ich schaffte meinen Fernseher ab und kaufte keine einzige Frauenzeitschrift mehr. Durch mein bewusstes und nachhaltiges Konsumverhalten schützte ich mich vor den krankmachenden Werbeanzeigen und Schönheitsidealen, die Einkaufsmeilen und Geschäfte zieren. Diese ‘Abschottung’ half mir sehr, meinen Körper so zu lieben, wie er ist, mich nicht ständig zu vergleichen und stattdessen Essen wirklich zu genießen. Mein Instagramfeed ist inzwischen dank meiner Digitaler-Minimalismus-Challenge Ende letzten Jahres sehr ausgewählt. Das war hart, aber es hat sich gelohnt. Ich konnte mich wieder voll und ganz auf mich und meine Bedürfnisse konzentrieren und vollendete endlich mein veganes Kochbuch.
Ich werde als erste dicke Frau auf einem veganen Kochbuch, und zwar meinem eigenen, abgebildet. Ich freue mich riesig, das Vegan-Klischee etwas aufzurütteln und generell für mehr Diversität auf Kochbuch-Covern zu sorgen. Und genau das tue ich auch auf meinem Instagram-Account: Ich ändere Sehgewohnheiten! Ich esse und genieße als dicke Frau nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Internet. Und ansonsten lasse ich mich gerne auch in Unterwäsche ablichten:
https://www.instagram.com/p/B7Agub5IXem/
Die Bauchfrauen haben einen großen Teil dazu beigetragen, meine Selbstliebe auch durch meine Kleidung auszudrücken. Das erste Mal bauchfrei 2018. Das allererste Mal in meinem ganzen Leben! Das war ein Befreiungsschlag, sage ich euch:
https://www.instagram.com/p/Bjw7viiB_qe/
Maria González Leal (@bodymary) und Noemi Christoph (@noemichristoph) sind weitere wichtige Accounts, die in eurem Insta-Feed dafür sorgen, eure Sehgewohnheiten zu ändern und mit ihren Inhalten wertvollen Mehrwert auf dieser meist so oberflächlichen, visuell orientierten Plattform schaffen:
https://www.instagram.com/p/B_2cSzZpi9F/
https://www.instagram.com/p/B-fYVq7KBkr/
3 Tipps für mehr Genuss
3 Tipps für mehr Minimalismus in deiner Küche
Genießt das Leben, euch selbst, und vor allem auch eure Nahrung!
Über mich
Ich bin Brit, 39 Jahre und inzwischen fünffache Autorin. Vier meiner Bücher handeln vom Kochen und Backen, eines ist ein Minimalismus Journal. Ich arbeite freiberuflich als Genuss-Mentorin und habe ein Private-Mentoring-Programm entwickelt, das Menschen zeigt, wie sie mit minimalem Aufwand zu maximalem Genuss finden, und damit ein Fundament für ihr energievolles, leichtes Leben schaffen. Mein neues Kochbuch ‘Einfach vegan genießen – meine minimalistische Pflanzenküche’ ist ab Juli beim Ventil Verlag erhältlich:Einfach vegan genießen *Partnerlink.Für Minimalismus-Einsteiger*innen ist mein Buch ‘Weg damit – Endlich Zeit statt Zeug’ auch sehr hilfreich.*PartnerlinkAls weiterführende Genusslektüre empfehle ich euch ‘Das kleine Buch vom Riechen und Schmecken’ von Hanns Hatt und Regine Dee, erschienen beim Knaus Verlag.
Kommentare werden vor der Veröffentlichung genehmigt.