Das defekte MenschSEIN
Wir behandeln uns selbst oft ein bisschen so, als wären wir kaputte Maschinen, die stets auf der krampfhaften Suche nach der idealen Reparatur, dem idealen Werkzeug oder einem idealen Motor sind. Letztendlich nur, um immer noch etwas mehr Leistung und Funktion aus uns herauszuquetschen. Im Wort wörtlichen Sinne ein recht „unmenschliches“ Bild, das wir uns da von uns selbst und unserem Leben kreiert haben. Denn Maschinen haben keine Seelen, sind kalt und fühlen nichts!
Ja gut, sie dienen einem gewissen Zweck und liefern auch Mehrwerte. Werden gebraucht! Doch ich frage Dich: bist du hier, um zu dienen, um gebraucht zu werden?
Funktionieren ist eine überschaubare Art, sich lebendig zu fühlen. Allerdings ist Leben nichts überschaubares, es ist unendlich, vielleicht flößt uns genau das (so viel Ungewissheit) ein, dass wir uns eben mit dem begrenztem Machtersatz von Funktionieren und Kontrolle zufrieden gegeben haben. Sie bieten uns eben auch eine gewisse Schein-Sicherheit, die uns noch zu sehr dient. Denn damit eine Maschine ihren Zweck erfüllt, quasi eine Daseinsberechtigung besitzt, muss sie auch gebraucht werden. Findest du es nicht enorm anstrengend auf diese Weise deine Existenz ständig zu begründen, fast schon zu verteidigen? Kein Meer zweifelt an seiner Daseinsberechtigung, es nimmt voller Vertrauen Fläche ein, dehnt sich vollkommen aus: mehr Unendliches, mehr Lebendigkeit geht nicht. Der Gedanke, dass allein dein Vorhandensein, dein Da-Sein, mehr als gerechtfertigt ist, ist für ein Großteil der Menschen absolut nicht greifbar. Du wirst wertvoll geboren! Und dennoch suchen einige – vergebens - im Außen, durch ständiges Leistung erbringen, Optimieren des eigenen Aussehens und Güter Ansammlungen, nach ihrer eigenen Wertigkeit. Verbinde dich gerne mal mit folgendem Bild, als du noch im Bauch deiner Mutter gemütlich vor dir her schlummertest und man sich auf dich freute, es kaum abwarten konnte, bis du das Licht dieser Welt erblicken würdest. Nicht weil du etwas geleistet hattest, sondern aufgrund deiner reinen Existenz. Na, wie fühlt sich das an? Mit unserer Art zu leben, versuchen wir ständig eben diese weitere Angst, die sich hinter dem „Gebraucht werden“ verbirgt, auszuweichen, nämlich unwichtig und austauschbar zu sein.
Du brauchst keine Berechtigung, du darfst sein! Du bist wichtig, weil du bist!
Du bist übrigens auch nicht kaputt! Du musst nicht erst werden, du bist bereits! Doch ich verstehe, wenn du nicht leugnen kannst, dass sich etwas in dir „defekt“ anfühlt, irgendwie nach defektem MenschSEIN. Na ja, durch unsere Konditionierungen und gesellschaftlichen Strukturen sind wir quasi absolute Gewinnerinnen im Werden, doch umso eher Verliererinnen im Sein. Auch wenn es nicht unsere Schuld ist, wird es dringend Zeit, diese abhanden gekommene Lebenslust wieder für uns zu gewinnen. Zu Sein impliziert sich selbst seine Existenz, wahrhaftig zu erlauben und zu genießen, zuzuhören und zu empfangen. Eigenschaften, die in unserer stark maskulin dominierten Welt oft fehlinterpretiert werden. Und keiner, wirklich keiner möchte als faul, passiv oder tatenlos abgestempelt werden. Doch Wandel fängt immer, im Kleinen, bei uns selbst an, deshalb dürfen wir uns frei von ungesunden Betitelungen und irgendwelchen kollektiven Überzeugungen machen, neu wählen und uns erlauben, wirklich zu Sein. Der einzige Zustand, meines Erachtens, in der wir unsere und die Vollkommenheit des Lebens Überhaupt einigermaßen erahnen können.
Einfach sein, aber wie?
Nach Jahren der Kontrolle ist es nur allzu verständlich, dass dieses „Sein“ in uns auf heftigen Widerstand stößt. Sobald die Fassade unserer „vielleicht doch nicht richtigen“ Weltanschauung zu bröckeln beginnt, entfacht in uns Panik. Wir fangen an, uns zu fragen, wenn „das funktionieren“ und „das kontrollieren“ weg bricht, was bleibt dann noch, wer bin ich dann und bin ich überhaupt bereit dies zu erfahren? Gleichzeitig brüllt es aus unserem Ego-Verstand: „NICHT EINSTÜRZEN LASSEN, bitte bitte bitte alles soll beim Alten bleiben“! Doch in Vernichtung und Zerstörung liegt eine kraftvolle Schönheit, die leider den meisten von uns verborgen bleibt. Weil sie eben wie unser Verstand kein wahrer Fan von Veränderung sind. Zudem fühlt sich das Eingestehen, dass der eigene Kampfmodus (der durch ständige Kontrolle und funktionieren aktiviert wird) uns nicht dient, nach schwerem Verrat an uns selbst an! Die eigenen Lebensstrategien, das Vorgelebte, dem wir uns meistens einfach anschließen, kritisch zu hinterfragen, fällt schwer. Soll tatsächlich das ständige Absprechen der eigenen Bedürfnisse, die ganzen weggelassenen Pausen, um schneller ans Ziel zu gelangen, wirklich komplett um sonst gewesen sein? Die Geschichte, die man sich selbst eben ständig vom Märchen des „du musst dich nur genug anstrengen“ erzählt hat, um überhaupt diese lieblose Lebensstrategie aufrecht erhalten zu können, hat plötzlich kein Happy End mehr. Und das ist natürlich wahnsinnig beängstigend! Trau dich dennoch und spring ins Ungewisse. Schenke dem Leben und dir einen großen Vetrauensvorschuss. Sonst erwischst du dich höchstwahrscheinlich dabei, wie du, bevor du dich mit dem beängstigenden grenzlosen Meer auseinander setzten darfst, lieber das sinkende Schiff wählst und mit ihm untergehst. Und das nur, weil es dir vertrauter vorkam. Es wirkt zunächst einmal sehr herausfordernd, sein Vertrauen neu zu positionieren - in Vorleistung quasi damit zu gehen. Doch du kommst darum nicht herum, wenn du aus diesem beängstigenden Meer auch Rettung und Gutes erkennen möchtest.
"What if I fall?" Oh but my darling, what if you fly? Erin Hanson
Übrigens nichts, absolut nichts ist umsonst - darauf gehen wir später noch genauer ein. Das ständige Anpassen und somit Kontrollieren und Funktionieren, ist auf der einen Seite gewiss fürs „Sich selbst verpassen“ verantwortlich und zugleich allerdings auch die einzige Antwort gewesen, die manche kannten, um zu überleben. Du wusstest es nicht besser, deine Eltern meistens übrigens auch nicht - verzeih ihnen und vor allem dir.
Hard Facts:
1. Lerne, dass die Angst vor Veränderung und deine mangelnde Bereitschaft für Flexibilität ein überdosierter Schutzmechanismus deines Gehirns ist, das so nicht mehr gebraucht wird.
2. Zerstörung ist immer die Vorbotin für Neues.
3. Ohne Vertrauensvorschuss läuft hier gar nichts!
Energie entgleitet nicht, Sie fließt!
Ein Leben ohne Kontrolle gleicht für die meisten Menschen allerdings einem orientierungslosen Leben, eines, das eventuell „entgleiten“ könnte. Aber entgleitet das Meer? Ja gut, es lässt sich schwer abstreiten, dass es sich nicht bändigen oder einsperren lässt, aber es geht uns nie wahrhaftig verloren. Interessant, dass wir das in der Natur bereits für selbstverständlich nehmen, doch unsere eigene tiefe Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe lässt uns das im menschlichen Kontext oft vergessen. Nur zu gern orientieren wir uns an Begrenzungen wie richtig und falsch, Regeln und anscheinende Verpflichtungen, um unserem Grenzenlosen (in uns) auszuweichen. Um uns selbst allerdings endlich eine würdige Transformation zu gewähren, dürfen wir unseren Fokus auf den wohl größten Unterschied zwischen Mensch und Maschine lenken: aufs Fühlen.
Wie stehst du zu deinen Gefühlen? Kennst und erlaubst du sie dir? In den letzten Jahren habe ich stark beobachtet, dass unsere beschäftigte Gesellschaft kaum Raum schafft für Gefühle, außer wir haben einen sofortigen und sichtbaren Nutzen aus ihnen. Ansonsten sind sie eher unbeliebt und werden ständig in gut und schlecht separiert. Dadurch verlieren wir nicht nur die Verbindung zu all unseren unterschiedlichen Gefühlsnuancen, sondern nehmen diese für nicht kompetent wahr. Die Folgen davon sind verheerend. Frau stelle sich mal vor, es gebe nur den frischen Morgen und anschließend die sofortige müde Nacht. Alle Tageszeiten dazwischen würden komplett wegfallen, ungeheuerlich, nicht? Doch die meisten Menschen erfahren allerdings nur genau diese sehr schlichte Gefühls-Vielfalt, nämlich keine, und sind somit leider auch nicht wirklich fähig, sich in ihrer wahrhaftigen Ganzheit zu erkennen, geschweige denn zu umarmen.
Doch warum ist das so?
Uns wurde ein bestimmtes Bild von einem erfolgreichen und glücklichen Menschen vorgegeben. Jemand, der stets im Gleichgewicht mit sich ist, sich zurücknimmt und seine Gefühle kontrollieren kann. Taucht in dir auch sofort ein Bild von einem weißen Mann auf?
Dies gilt es also anzustreben, dafür verdrängen wir schon mal das ein oder andere unbequeme oder unpassende Gefühl. Und wenn verdrängen nicht mehr ausreicht, dann bleibt eben nichts anderes übrig, als es zwanghaft hinunter zu pressen. Denn aus dem gesellschaftlichen Rahmen zu fallen, gleicht für manch eine einer absoluten Katastrophe. Als Außenseiterin, Anders-Denkerin oder als die Komische betitelt zu werden, gilt für viele dringend zu vermeiden. Komme was wolle. Unabhängig davon, dass solch eine Betitelung, besonders von unachtsamen Menschen, eher als eine Art Bestätigung für den aufgebrachten Mut, seinen eigenen Weg zu finden, interpretiert werden könnte (vergiss nicht: Hitler folgten leider Millionen Menschen, Jesus nur 11) wollen die meisten dennoch gerade dies vermeiden. Vom großen Rudel und dem neusten Tratsch-Stoff von Nachbarin Silke ausgestoßen zu werden. Ob die Richtung des Rudels unserer eigenen Wahrheit entspricht, stellen wir meistens gar nicht in Frage. Genauso selten bemerken wir, dass „Nachbarinnen" wie Nachbarin Silke höchstwahrscheinlich nichts besonders Gutes über sich selbst zu sagen haben, wenn sie sich auf andere stürzen - wie schade!
Nicht zu vergessen sei hier auch, dass vor gar nicht allzu langer Zeit Frau, wenn sie ihren Gefühlen Luft machte, oft als hysterisch und unbeherrschbar galt - die spannende Frage ist natürlich, für wen? Die „unkontrollierbare weibliche Impulsivität“ galt als unseriös. Fordernde und wütende Frauen als anstrengend und kompliziert, ein Klischee, das fast alle 90iger Teenie Filme bedienen - danke dafür. Gibt es eigentlich auch zickige Männer?
Was keine Miete zahlt muss raus
Und obwohl fühlen eine Aktivität ist, die noch eher Frauen erlaubt wird, kann man sich gut vorstellen, wie aufgrund der veralteten, allerdings noch vorhandenen Vorurteile, sich sogar diese Gefühls-Staudämme erbaut haben. Gefühle sind wie Wasser, sie kommen und gehen und vor allem wollen sie fließen. Und etwas was fließt, stets zu halten, zu kontrollieren, kostet Unmengen an Energie. Doch das hatten wir ja schon, nur mit dem Meer, erinnerst du dich? Kannst du Wasser wirklich kontrollieren, bändigen? Wohl eher nicht, doch allein durch die absurde Annahme laufen wir tatsächlich Gefahr, dass uns alles entgleitet und uns regelrecht wegspült. Was genau? All die Gefühle, dich sich eben nicht mehr in unserem instabilen selbstgebauten Staudamm zurückhalten lassen. Alles was nicht sein durfte!
Ein gesünderer Umgang mit all seinen Gefühlen fordert vor allem eine furchtlosere Betrachtungsweise. Eine, in der wir uns endlich erlauben, zu hinterfragen, was wir uns eben nicht erlauben, zu fühlen. Eben, was nicht sein darf?
Nach Jahren eines recht mittelmäßigen Gefühls-Management hilft uns vielleicht dieses Bild: Gefühle sind Gäste, die uns zwar besuchen, allerdings auch wieder gehen. Als Gastgeberin unseres eigenen Seins können wir lernen, zu beeinflussen, wie lange sie unsere Zeit beanspruchen dürfen.
Zudem möchte ich die wunderbare Gelegenheit nutzen, um dir folgendes mitzuteilen: Zwar fordere ich dich regelrecht dazu auf, mehr vom Kopf in den Bauch ins Fühlen zu kommen, dennoch will ich, dass du weißt, dass du nicht deine Gefühle bist! Das kann uns dabei helfen, die letzten Hemmungen über Bord zu werfen und uns in das Abenteuer „fühlen“ hineinzubegeben. Zu häufig haben wir eben großen Bammel, wirklich alles zu fühlen. Unteranderem auch, weil wir uns zu stark mit unseren Gefühlen identifizieren. Doch du bist immer das große Ganze hinter deinen Gefühlen. Und was dir wirklich abartige Furcht bereiten sollte, statt alles zu fühlen, ist alles zu verpassen, was dich wirklich ausmacht.
Vergiss nicht, du bist nicht dein Gefühl, du fühlst dein Gefühl. Du bist auch nicht deine Arbeit, du machst deine Arbeit. Du bist nicht deine Beziehungen, sondern du führst sie. Du bist niemals ein Fehler, wenn überhaupt machst du sie.
Erkennst du den großen Unterschied? Umformulierungen können uns eine massive Stütze sein, besser zu erkennen, dass das, was wir fühlen, nicht automatisch unser ganzes Sein bestimmen muss. Statt „ich bin traurig“, könntest du ab heute sagen: „Ich fühle mich traurig“. Zusätzlich könntest du dem ganzen auch noch ein zeitlich begrenztes Limit geben, statt zu verkünden: „Ich bin überfordert“ könntest du es so ausdrücken: „Ich fühle mich heute/gerade/aktuell überfordert“. Doch auch das reine Fokussieren der eher beliebteren und bequemeren Gefühle, wie zum Beispiel Freude, Hoffnung und Inspiration, ist nicht vorteilhafter, wenn wir uns mit all unseren Anteilen in unserer Vollkommenheit erfahren wollen. Dort wo ausschließlich Sonne ist, ist auch Wüste, droht dürre. Wir brauchen Regen und Sonnenschein und natürlich auch wieder alles dazwischen. Erkenne in jedem Zustand das Besondere.
Wie leitest du dich durch dein Leben? Hast du bemerket, wie leicht es dir fällt, dich selbst anzunehmen und zu lieben, wenn alles in deinem Leben blendend läuft? Doch wie bist du zu dir, wenn mal wieder nichts läuft, wie du es dir gerne wünscht - bist du dann besonders streng zu dir selbst und entziehst dir deine eigene Liebe? Oft haben wir ja leider nichts anderes von unseren Eltern vorgelebt bekommen, die uns mit ihrem Liebesentzug maßregeln wollten - mach es besser! Du kannst es, du musst dich nicht dafür bestrafen, wenn du nichts unter Kontrolle hast. Wie wir ja bereits feststellen konnten, ist dieses Bild von Ordnung und Funktion nicht nur ein liebloses Bild einer Maschine (was du eben nicht bist!), sondern auch zusätzlich noch restliche Überbleibsel patriarchalischer Strukturen, die keiner mehr braucht.
Achso übrigens, auch wenn alle immer so tun, niemand hat sein Leben wirklich unter Kontrolle!
Warum? Das Leben ist nichts, was kontrolliert werden kann, nichts Überschaubares! Ich bin nicht hier, um anderen zu dienen oder um gebändigt zu werden! Es gibt keinen Zweck zu erfüllen, außer den, den ich dem Leben beimesse! 100 Punkte, ich gratuliere. Aber eine Frage hätte ich da noch: Lebst du also schon oder willst du weiterhin funktionieren?
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