Weil es mir erst jetzt wichtig genug ist - Gastbeitrag von Verena Klindert

Sandra Wurster | 23 September, 2019


          
            Weil es mir erst jetzt wichtig genug ist - Gastbeitrag von Verena Klindert

Wer bin ich eigentlich ohne meine Termine? Meine Verpflichtungen? Meine To Dos? Meine Ansprüche? Wer bin ich, wenn ich alleine bin? Ohne Druck und dem Gefühl, dass alle von außen schauen, bewerten und vielleicht sogar verurteilen? Wer bin ich? Wie viel von dem Leben, das ich lebe, bin ich?

Als ich mir diese Frage vor ungefähr einer Woche stellte, kam ich zu einem niederschmetternden Ergebnis. Mein Leben hat nur noch sehr wenig mit mir zu tun. Ich erkenne mich darin kaum noch. Ich komme zwar meinen Aufgaben nach, entspreche dem gängigen Bild einer Mutter, Ehefrau und Freundin, fühle mich aber schon lange nicht mehr danach. Und das, so hart wie es auch klingen mag, ist der einzige Weg, um daran überhaupt etwas ändern zu können. Die Einsicht, dass etwas nicht stimmt. Dass es zwar ganz wunderbar ist, wenn alle mit dir zufrieden sind und du abends mit dem Gefühl einschlafen kannst, alles „richtig“ gemacht zu haben, aber dass das alles nichts mehr bringt, wenn du irgendwann leer bist. Und ich bin leer.

So leer, dass ich im Supermarkt fast angefangen habe zu weinen, als mich ein Mann aus Versehen (!!!) mit seinem Einkaufswagen rammte. So leer, dass ich abends weinend einschlief und tagsüber nicht mehr aufstehen wollte. Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit. Und das alles, weil ich ständig „Ja“ zu Anderen und „Nein“ zu mir sage. Das Problem dabei: das alles war mir bis zu all diesen Symptomen gar nicht bewusst. Klar, ich habe gespürt, dass ich mal wieder etwas nur für mich tun sollte. Schreiben, lesen, malen. Irgendetwas. „Aber na ja, mach‘ ich dann, wenn wieder etwas mehr Luft ist. Und so wichtig ist das jetzt erst einmal nicht. Die anderen schaffen das ja auch alles. Schaffen sogar noch viel mehr als ich. Augen zu und durch, ich stell‘ mich jetzt nicht so an.“

Wann habe ich eigentlich angefangen, meinen Körper dazu zu zwingen, meine seelischen Bedürfnisse zu übergehen? Warum dachte ich irgendwann, dass es mir mehr dient, etwas zu tun, was sich für mich gar nicht richtig anfühlt?

Wir denken oft, dass wir übertreiben würden, wenn wir unserem müden Körper nachgeben und schlafen, obwohl noch so viel zu tun ist. Wir glauben, dass es schon ok ist, diese Kleinigkeit und jene Kleinigkeit zu tun, um Ärger aus dem Weg zu gehen, obwohl wir das eigentlich gar nicht wollen. Auf manche Sachen haben wir uns schon ewig gefreut. Und das dann absagen oder verschieben, nur weil man sich ein bisschen krank fühlt? Wir überhören, übergehen, überschätzen uns jeden Tag. Und das alles, um unserem Lebenstempo noch irgendwie gerecht zu werden. Um mithalten zu können. Um all das mitzunehmen, was uns wichtig erscheint.

„Schlafen kann man, wenn man tot ist“ oder so.

Viele von uns empfinden das so. Denn wir alle wollen Teil eines Ganzen sein, wir wollen etwas Schaffen. Brauchen das Gefühl, wichtig und nützlich zu sein. Wollen Leben, Aufregung, Bewegung. Aber es ist wie immer: ohne Balance wird es uns schlecht gehen. Und deshalb sage ich heute: es geht mir schlecht. Das ist ok. Es geht mir schlecht und jetzt tue ich etwas dagegen. Sofort. Und stelle fest, dass ich mir oft einfach nur selbst im Weg stand.

Die Schamanen fragen einen Patienten, der mit seelischen Beschwerden zu ihnen kommt, zuallererst immer: „Wann hast du aufgehört zu tanzen? Wann hast du das letzte Mal gesungen? Wann haben erzählte Geschichten ihren Zauber verloren? Wie lange ist es her, dass du Erholung im Land der Stille gefunden hast?“ Ich drehe nun also mehrmals am Tag dieMusik auf, schließe die Augen und tanze, als wäre ich auf einem anderen Stern. Das habe ich lange nicht gemacht, weil ich das für eine kindliche Spielerei hielt, die in meinem Alltag keinen Platz hat. Albern kam es mir vor. Jetzt aber freuen sich meine Kids genau so darüber wie ich. Wir lachen uns kaputt. Ich singe im Auto und in der Dusche. Ganz bewusst. Manchmal zwinge ich mich sogar dazu. Lasse die Ernsthaftigkeit gehen, von der ich dachte, dass ich sie so dringend bräuchte, um effizient zu sein und stelle das Gegenteil fest. Ich fühle. Versuche, weniger zu denken. Ich fange wieder an zu lesen, lasse mich inspirieren und meditiere. Noch kann sich mein Kopf nicht so darauf einlassen, aber es wird besser und besser. Der Platz für mich ist da, er war es schon die ganze Zeit. Aber erst jetzt kann ich es erkennen. Weil es mir erst jetzt wichtig genug ist.

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