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Haben wir wirklich eine Adipositas-Epidemie? - Gastbeitrag von Petra Schleifer

Sandra Wurster | 23 February, 2021


          
            Haben wir wirklich eine Adipositas-Epidemie? - Gastbeitrag von Petra Schleifer

Gastbeitrag von Petra Schleifer (Instagram: @bellyandmind)

Wenn wir über Gewichts-Diskriminierung und Fat Shaming diskutieren, fallen immer wieder die Argumente, Übergewicht sei ungesund und es bestünde eine „Adipositas Epidemie“. Diese Begriffe werden nicht nur von Laien genutzt, sondern immer wieder von offiziellen Stellen wie Krankenkassen oder in Marketing-Kampagnen für „zuckerfreie“ Produkte und Diät-Produkte. Die Mehrheit ist überzeugt: Wir haben ein Problem mit dem Gewicht. Menschen werden dicker und dicker und eines Tages werden uns Fluten an Diabetikern um unser Gesundheitssystem bringen.

Aber stimmt das eigentlich und woher stammt diese Idee?

1998 wurden 40 Millionen Menschen über Nacht „fettleibig“. Die US-amerikanische Organisation The National Institutes of Health (NIH) veränderte von heute auf morgen ihre Referenzwerte: Die Grenze zwischen den Kategorien „übergewichtig“ zu (krankhaft) „fettleibig“ wurde nach unten korrigiert. Die Adipositas-Epidemie war geboren.

Die NIH ist eine unabhängige Organisation, die sich der Volksgesundheit widmet. Klingt erst einmal super. Doch bei näherer Betrachtung wird klar, dass dies von langer Hand geplant war. Die Empfehlungen der NIH basieren auf einem Report der Weltgesundheitsorganisation (WHO), den diese zwei Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Deren Daten wurden aber von einer anderen Organisation zur Verfügung gestellt, nämlich der International Obesity Task Force (IOTF). Diese Organisation wurde durch zwei große Pharma-Konzerne gegründet, die Medikamente zur Gewichtsabnahme entwickelt hatten (Hoffmann-La Roche und Abbott Laboratories 1).

Die Folge ist, dass immer mehr Menschen die Empfehlung bekommen, ihr Gewicht zu reduzieren. Insbesondere von Ärzt*innen und Institutionen, die pharmazeutische Präparate verschreiben können und dürfen. (Dies ist übrigens keine Seltenheit und auch mit Blutdruckwerten schon gemacht worden.)

Gewichtsproblem über Nacht

Über Nacht hatten also auf einmal 40 Millionen Menschen alleine in den USA ein Gewichtsproblem und sahen sich in der Situation „Ich muss etwas dagegen tun“. Pharma-Firmen hatten damit also über Nacht die Zielgruppe für ihre Medikamente um 40 Millionen Menschen vergrößert.

Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass angeblich „unabhängige“ Expert*innen, wie z.B. Xavier Pi-Sunyer, gegen Bezahlung für Pharma-Firmen wie Wyeth-Ayerst Laboratories, Eli Lilly und Weight Watchers International arbeiteten. Pi-Sunyer war außerdem ein Mitglied der WHO, die die Verschiebung des BMI-Referenzwertes empfohlen hat.

Der politische Wissenschaftler J. Eric Oliver schrieb über diesen Zusammenhang bereits 2005 in seinem Buch Fat-Politics: „It´s difficult to find any major figure in the field of obesity research… who does not have some type of financial tie to a pharmaceutical or weight-loss company“. Was soviel heißt wie: „Es ist schwer, eine der Haupfiguren in dem Feld der Übergewichts-Forschung zu finden, die nicht in irgendeiner Weise finanziell mit einer Pharma-Firma oder eine Diät-Firma verbunden ist.”

Warum ist es wichtig zu wissen, wer Forschung finanziert?

Ganz einfach, weil Forschung keinen Selbstzweck verfolgt. Firmen bezahlen Forschung, um Ergebnisse zu erzielen, mit denen sie Geld verdienen können. Und nicht, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das will ich gar nicht bewerten oder damit sagen, dass Forschung und Studien nicht unglaublich wichtig wären. Ich denke nur, es ist wichtig zu wissen, dass Forschung und Studien nicht unabhängig sind. Dadurch, dass es nun plötzlich 40 Millionen adipöse Menschen in den USA mehr gab, wurde die finanzielle Unterstützung für die NIH von 50 Millionen in 1998 auf 400 Millionen in 2004 gesteigert. Das macht deutlich, dass auch der Einfluss der NIH massiv profitiert hat.

Dieses Vorgehen legte den Grundstein für den Begriff “Adipositas-Epidemie”.

Adipositas in Farben

Aber damit nicht genug: Was diese Nachricht noch attraktiver und viraler für die mediale Verbreitung machte, war eine kleine Power-Point Präsentation, die auf der Forschung von William Dietz fußte (damals Direktor der CDS´s Division of Nutrition and Physical Activity). Dietz legte seinen Fokus auf die Überzeugung, dass Übergewicht selbst eine Erkrankung sei, die behandelt werden müsse. Er behauptete, die Menschen würden kränker und kränker, weil sie immer fetter würden. Er wollte die Mehrheit davon überzeugen, dass das öffentliche Gesundheitssystem sich darum kümmern müsse.

Dietz und Kollegen versuchten, diese (damals neue) Idee grafisch aufzubereiten. Sie nahmen eine Karte der USA mit ihren Staaten und zeichneten die vorhandene Datenlage (mit den neuen BMI-Grenzwerten) ein. Staaten mit weniger als 10 % Adipositas in der Bevölkerung waren hellblau markiert, die mit höheren Raten dunkelblau und die mit Zahlen über 20% rot. (Wir erinnern uns: 40 Millionen Amerikaner waren gerade erst in eine höhere BMI Kategorie gerutscht, ohne tatsächlich zugenommen zu haben).

Die erste Karte aus dem Jahr 1985 zeigte große Teile in weiß. Mit den folgenden Jahren wurden immer mehr weiße Staaten hellblau und diese wiederum dunkler. Die Karte wurde immer dunkler, gemixt mit rot. 1998 gab es sieben rote Staaten.

Komplett falscher Eindruck

Die Karten hinterließen den starken Eindruck, dass von 1985 bis 1998 viel mehr „adipöse“ Menschen in den USA lebten als zuvor. Dietz erklärte: „Nachdem wir die Karten gezeigt hatten, hatten wir keine Diskussionen mehr, dass wir ein Adipositas-Problem haben.“

Das wahre Problem aber ist, dass diese Karten einen komplett falschen Eindruck hinterlassen haben. Zum einen, weil ein Gewichtsunterschied von ein paar Pfund so einen Menschen von einem „übergewichtigen“ zu einem „(krankhaft) fettleibigen“ machte. Zum anderen wurden dabei Staaten mit sehr hohen oder sehr geringen Einwohnerzahlen, städtischen und ländlichen Regionen verglichen. Staaten wie Mississippi, Alabama und West Virginia waren tief rot. Dort grassierte aber nicht plötzlich ein „Dickmach-Virus“. Nein, Menschen in ländlichen und armen Gebieten waren schon immer dicker als die in wohlhabenden Gebieten. Auch bei uns in Deutschland korreliert Gewicht mit Reichtum und Armut, Status und Sicherheit.

Diäten sind ein selten diskutierter Faktor

Statt also immer wieder die gleichen Thesen zu verzerren, dass Menschen aufgrund von mangelnder Bildung adipös würden, sollten wir Mitgefühl aufbringen. Wir sollten uns fragen, ob Stress und Angst um die eigene Existenz nicht logischerweise zu mehr Gewicht und auch zu mehr Erkrankungen führen. Gerade in den USA, wo es so viel größere soziale Herausforderungen, besonders für die schwarze Bevölkerung, gibt und Menschen drei Jobs gleichzeitig haben, sind Gesundheitszustand und -versorgung deutlich fragiler als bei uns.

Das durchschnittliche Gewicht in den USA mag ein wenig gestiegen sein in der Zeit von 1985 bis 1998. Dies stellt aber in keinster Weise den Ausbruch einer Krankheit dar.

Ein anderer, nie wirklich diskutierter Faktor ist das „Diäten“ selbst. Ein beabsichtigter Gewichtsverlust führt in 2/3 der Fälle langfristig zu einer Gewichtszunahme. Da der Marktanteil der Diät-Industrie jährlich um mehrere Milliarden wächst, stellt sich doch die Frage, ob wir nicht mit jeder verkauften Diätmaßnahme immer mehr „Diätopfer“ hervorbringen. So schaden wir nicht nur unserer psychischen und körperlichen Gesundheit mit Diäten. Wir erhöhen durch die Empfehlung, Gewicht zu verlieren, auch gleichzeitig die Anzahl der mehrgewichtigen Menschen. Dabei gewinnt nur eine Seite: die Diät-Industrie und alle die, die eine Abnehm-Lösung verkaufen wollen.

1. Oliver, Fat Politics, 2005. See also Ray Moynihan, „Obsity Task Force Linked to WHO Takes Millions from Drug Firms“, BMJ 332, no 7555: 1412. The IOTF has since rebranded itself as the world Obesity Federation (seehttp://www.worlobesityfederation.org/who-we-are/history/)
2. Christy Harrison, Reclaim yout Time, Money, Well Being and Happiness through intuitive eating.

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